Text der Übungen zum Leseverstehen "Wolfe"

Interview mit dem Schriftsteller Tom Wolfe. Die Zeit online 22/9/2005.
ZEIT: Sie gelten als Gesellschaftsanalytiker, der es liebt, die Linke zu provozieren. Wer sind aus Ihrer Sicht heute die Mächtigen in den USA?
WOLFE: Wenn Sie nach Individuen fragen, muss ich Ihnen antworten: Es gibt keine mehr. Das Wall Street Journal hat gerade berichtet, dass die Reichen in New Orleans die Flut besser überstanden, weil sie auf Anhöhen leben und einige von ihnen sich sogar israelische Bodyguards leisten können, um ihre Häuser zu schützen. Das mag alles stimmen, aber der Artikel hinterlässt fälschlicherweise den Eindruck, dass in Wirklichkeit ein paar reiche Familien alles kontrollieren, trotz eines schwarzen Bürgermeisters.
ZEIT: Sie glauben, das stimmt nicht?
WOLFE: Die Zeiten von Henry Ford sind vorbei, als einzelne Figuren fast alles bestimmen konnten. Leuten wie Ford war die Öffentlichkeit egal - das ist längst unvorstellbar. Heute stecken alle in globalen Abhängigkeiten, Firmen operieren weltweit und sind an der Börse. Natürlich verteilen die wohlhabenden Familien immer noch viel Geld an die Politik, aber ihr Einfluss sinkt.
ZEIT: Die Flut von New-Orleans hat in Amerika eine Debatte über die unterschiedliche Behandlung von Schwarzen und Weißen ausgelöst.
WOLFE: Die Wiedergabe von Klischees spielt in dieser Debatte seit Jahrzehnten eine entscheidende Rolle. Ende der fünfziger Jahre fing ich an, bei der Washington Post zu arbeiten, und die einzigen Reportagen, die sich mit Schwarzen beschäftigten, waren Geschichten über Armut und Verbrechen. Dabei gab es einen gar nicht so kleinen schwarzen Mittelstand in Washington. Der existierte gar nicht in der Zeitung! Niemand schrieb darüber! Ich will mich bei diesem Thema abseits der Klischees bewegen. Eine der Figuren in meinem Roman Ein ganzer Kerl ist ein schwarzer Anwalt, der hin und her gerissen ist zwischen den Interessen seiner Leute und seinen eigenen Interessen als Geschäftsmann.
ZEIT. In der Berichterstattung über New Orleans wurden Schwarze oft als Opfer dargestellt.
WOLFE: Lassen Sie mich etwas Grundsätzliches sagen. Was mit New Orleans passiert ist, ist bisher so nur mit Pompeji geschehen: Eine Stadt wird von einer Naturkatastrophe vollkommen zerstört. Außerdem kam die Flut ganz langsam über die Stadt. Es war kein Tsunami; der alles wegspülte. Es war wie eine Badewanne, die mit einem Stöpsel abgedichtet ist. Langsam läuft Wasser hinein, lange können Sie nichts entdecken. Und dann - boom! - ist die Katastrophe da.
ZEIT: George W. Bush ließ sich zunächst über das Krisengebiet fliegen - nicht gerade einfühlsam.
WOLFE: Oh, er ist aber irgendwann wieder gelandet! Was hätte er tun sollen? Gar nicht aufkreuzen? Sich in die Stadt bewegen, in dem Zustand, in dem sie sich befand? Das wäre unmöglich gewesen. Ich halte die Kritik an Bush für irrelevant. New Orleans ist kein Skandal.
ZEIT: Viele vertreten die These, dass Bush schneller eingegriffen hätte, wenn New Orleans vor allem von Weißen bewohnt wäre.
WOLFE: Der Bürgermeister von New Orleans ist ein Schwarzer, der Polizeichef ist ein Schwarzer, die meisten Polizisten und Feuerwehrleute sind Schwarze - ganz einfach, weil der größte Teil der Bevölkerung schwarz ist. Dasselbe passierte in Miami mit den Kubanern. Innerhalb einer halben Generation übernahmen sie viele Ämter und Positionen. Das geht nur in diesem Land und nirgendwo sonst auf der Welt. Wenn eine Gruppe groß genug ist, hat sie früher oder später politischen Einfluss. Eine Frage: Wie viele Türken sitzen im Deutschen Bundestag? Wie viele Algerier sitzen im Pariser Stadtparlament?
ZEIT: Sie zeichnen ein rosarotes Bild der USA.
WOLFE: Nennen Sie mich ruhig einen Chauvinisten, Gentlemen!
ZEIT: Von Deutschland aus betrachtet, waren die Auseinandersetzungen auf den Straßen von New Orleans erschreckend.
WOLFE: Welche Auseinandersetzungen? Es kam zu Kämpfen und Plünderungen, aber nach ein paar Tagen hatte sich die Lage wieder beruhigt. Für eine Katastrophe dieses Ausmaßes ist das keine sehr überraschende Bilanz.
ZEIT: Wir sahen das arme Amerika, das vom reichen Amerika im Stich gelassen wurde.
WOLFE: Okay, wir nähern uns der Sache. Als ich für das Buch Ein ganzer Kerl in Atlanta recherchierte, machte ich eine überraschende Feststellung. Die reichen weißen Bewohner lebten auf Hügeln, während die armen Schwarzen weiter unten lebten. Nun hat Atlanta keinen großen Fluss, der überlaufen könnte, und die Stadt liegt 400 Meilen von der Küste entfernt, was also war der Grund dafür? Nun, auf der Höhe von etwa 450 Metern, wo die teuerste Wohngegend liegt, kann man Eichen und Ahornbäume anbauen, während weiter unten lediglich Pinien das heiße Klima überleben.
ZEIT: Also doch: Schwarz unten, weiß oben?
WOLFE: Wir müssen genauer hinsehen. Ich habe gerade einen Roman zu Ende gelesen, der um 1900 in New York spielt. Der Autor ging in die Slums der Lower Eastside. Die Menschen dort bildeten das untere Ende der Gesellschaft, sie waren die Ärmsten der Armen. Die meisten waren Iren, es gab auch Deutsche. Heute leben dort vor allem Lateinamerikaner, Kambodschaner und Thais, und auch sie werden als der Bodensatz der Gesellschaft beschrieben. Was ich sagen will: New Orleans ist kein schwarzes Problem, es ist ein ökonomisches Problem. Es hat nichts mit Rassismus, sondern mit Armut zu tun. Vor hundert Jahren waren die weißen Iren ganz unten, heute sind es viele Schwarze und Latinos. Das ist das eigentliche Drama: Die Armen sind nicht viel wert in unserer Gesellschaft, egal, welche Farbe ihre Haut hat. Sie können Amerika nur über Klassen verstehen, nicht über Hautfarben.
ZEIT: Ein anderes Thema, das in Ihrem neuen Roman behandelt wird, ist die Evolutionstheorie von Charles Darwin. Die Debatte ist in den USA gerade wieder neu entbrannt.
WOLFE: Darwin war klüger als die Darwinisten. Wenn Sie sein Buch lesen, erklärt er Ihnen am Ende: Bitte fragen Sie mich nicht, woher der erste Impuls kommt für eine Zelle, die sich teilt. Ich habe keine Ahnung! Seid doch zufrieden, dass ich die Evolution erklärt habe! Die Darwinisten glauben, dass er den Anfang allen Lebens erklärt.
ZEIT: Sie glauben doch nicht etwa der anderen Seite? Die behauptet, dass Gott den Menschen aus Schlamm geschaffen habe.
WOLFE: Natürlich nicht, aber beide Seiten machen es sich zu einfach! Die meisten Darwinisten sind Intellektuelle, und ich möchte Wert auf eine Unterscheidung legen. Menschen, die eine intellektuelle Leistung vollbringen, unterscheiden sich von so genannten Intellektuellen.
ZEIT: Wie meinen Sie das?
WOLFE: Das beste Beispiel ist Noam Chomsky. Als Chomsky ein Linguist war und die Sprachwissenschaften neu definierte, galt er nicht als Intellektueller. Erst als er den Krieg in Vietnam analysierte, wurde er zum führenden Intellektuellen Amerikas ernannt. Ein so genannter Intellektueller ist jemand, der sich auf einem Gebiet sehr gut auskennt - und sich zu anderen Gebieten äußert. Chomsky hatte keinen Schimmer von Vietnam.

 

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