Arbeitsmarkt
Aus historischer Sicht verdient die These vom neuartigen, stetigen Rückgang von Arbeitsplätzen Skepsis. Denn die massive Vernichtung herkömmlicher Arbeitsplätze durch technologischen Wandel hat von Anfang an zur Industrialisierung gehört. Doch immer wieder wurde die Vernichtung konkurrenzunfähiger Arbeitsplätze durch die Entstehung von noch mehr neuen Arbeitsplätzen kompensiert. Immer wieder gingen die Beschäftigungskrisen in neue Gleichgewichte über, so prekär diese auch blieben und so wenig sie je auf Dauer Bestand hatten.
Wirtschaftshistoriker bezweifeln, dass dieser mehr als 200 Jahre lang funktionierende Regelungsmechanismus heute zu Ende gekommen ist, und dass man daher auf Dauer mit massiver, gar wachsender Erwerbsarbeitslosigkeit rechnen muss. Aus dieser Sicht stellt der gegenwärtige Übergang von der industriellen zur postindustriellen Wirtschaft das Beschäftigungssystem nicht vor härtere Herausforderungen, als es der Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft vor ein bis zwei Jahrhunderten tat, wenngleich der heutige Wandel rascher, umbruchartiger verläuft als der damalige und international vernetzter ist als jener. Wenn es in unserem Teil der Welt einen Epochenwechsel gibt, dann resultiert er nicht aus dem Ende ausreichender Erwerbsarbeit, sondern aus dem demographischen Trendwechsel, der ein Jahrhunderte währendes inneres Bevölkerungswachstum durch innere Bevölkerungsschrumpfung ablöst.
Die Neuartigkeit der Gegenwart
Auf absehbare Zeit zeichnet sich weder das Ende der Erwerbsarbeit ab, noch wäre es zu wünschen. Die Neuartigkeit der Gegenwart erweist sich nicht am Ende, sondern an tiefen Veränderungen der Erwerbsarbeit.
Einerseits wurde Erwerbsarbeit seit langem im Dreieck Markt/Betrieb - Familie/Haushalt - Staat/Politik reguliert. Aber in diesem Dreieck haben sich in den letzten Jahrzehnten die revolutionärsten Veränderungen vollzogen. Das Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterordnung ändert sich rasch. Eine scharfe Rollentrennung zwischen dem Mann und Vater als demjenigen, der die Familie durch Erwerbsarbeit ernährt, und der Frau und Mutter als zuständig für den Binnenraum von Haushalt und Familie war zwar niemals völlig die Regel. Aber seit den 1970er Jahren erodiert, was davon existierte. Vieles, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert vornehmlich von Frauen im Haus erledigt wurde, ist zum Gegenstand von Erwerbsarbeit oder zur Aufgabe sozialstaatlicher Träger geworden. Der Rückgang der durchschnittlichen Kinderzahl hat die familiären und häuslichen Aufgaben stark reduziert. Die schnell steigende Frauenerwerbsarbeit ist teils Antrieb, teils Folge dieser Entwicklung. Es handelt sich um eine Revolution, die noch nicht abgeschlossen ist. Aber sie führt zur weiteren Verbreitung und Universalisierung von Erwerbsarbeit, nicht zu ihrem Ende.
Andererseits geht es um die tendenzielle Fragmentierung der Arbeit in Raum und Zeit. Während 1970 die Relation zwischen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einerseits und der Summe der Teil- und Kurzzeitbeschäftigten, der befristet und geringfügig Beschäftigten etwa 5 : 1 betrug, verschob sie sich bis 1996 auf 2: l. Die Elastizität der Erwerbsarbeit und die Fluidität der Arbeitsverhältnisse nehmen zu, die örtliche und zeitliche Fragmentierung der Arbeitsplätze schreitet voran. Die Flexibilitätszumutungen an die Einzelnen steigen. Neue Formen partieller und oftmals prekärer Selbständigkeit entstehen, statistisch sinkt der Selbständigenanteil derzeit nicht mehr. Der Arbeitsplatz verliert seine ehemals klare Abgrenzung, löst sich bisweilen auf. Die neuen Kommunikationsmittel erlauben neue Formen der Heimarbeit. Ein neues Zeitregime entsteht in den Grauzonen zwischen Arbeits- und Freizeit, mit Teilzeit und Gleitzeit, mit neuen Freiheitschancen und Abhängigkeiten. Manche dieser Veränderungen seit den 1970er Jahren kehren Trends der letzten zwei Jahrhunderte um!
Auf der einen Seite befürchten einige, dass aus der Flexibilisierung und Fragmentierung der Arbeitsverhältnisse eine bedrohliche Erosion der individuellen Identitäten und des sozialen Zusammenhalts folgt. In der Tat scheint die Bindungskraft, die sozial strukturierende, kulturell verbindende und vergesellschaftende Kraft der Arbeit in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen zu haben. Der viel diskutierte Niedergang der Arbeiterbewegungen legt davon Zeugnis ab.
Auf der anderen Seite enthalten die gegenwärtigen und zu erwartenden Wandlungen auch neue Chancen, beispielsweise zur Verknüpfung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten, zur Verbindung von Arbeit und Freizeit, zur Vereinbarung von Beruf und Familie, auch neue Möglichkeiten, das Verhältnis der Geschlechter zueinander weniger ungleich und produktiver zu gestalten. Jedenfalls werden die Berufsbiographien von Männern und Frauen einander ähnlicher. Die Zeit, die im Durchschnitt eines Lebens für Erwerbsarbeit aufgewendet wird, hat sich seit dem 19. Jahrhundert im Durchschnitt halbiert. Erwerbsarbeit ist heute verbreiteter als früher und ähnlich unverzichtbar wie früher. Aber ihr relatives Gewicht im Leben der einzelnen Menschen nimmt ab: drohender Bindungs- und Sinnverlust oder neue Freiheits- und Gestaltungschance? Man bedenke: Arbeit, speziell abhängige Erwerbsarbeit, war nie nur Selbstverwirklichung und Lust, sondern immer auch Abhängigkeit und Last. Für die meisten Arbeiten gilt das auch heute.
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